Kambodschas Killing Fields (2024)

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Kaing Guek Eav ist ein Interviewpartner, wie ihn auch abgebrühte Kriegsreporter nicht alle Tage treffen. Der 66-Jährige frühere Mathematiklehrer mit dem Kampfnamen "Duch" (gesprochen "Doik"), den der italienische Journalist Valerio Pellizzari nach drei Jahren intensiven Bemühungen in Phnom Penh sprechen könnte, ist einer der schlimmsten Massenmörder des 20. Jahrhunderts.

Etwa zwei Millionen Menschen, ein rundes Drittel der Bevölkerung Kambodschas, wurden zwischen April 1975 und Januar 1979 von den Steinzeit-Marxisten der Roten Khmer abgeschlachtet, vor allem Lehrer, Ärzte, Mönche, Professoren. Diktator Pol Pot, der "Bruder Nr. 1", und sein Komplize Ta Mok, als der "einbeiniger Schlächter" berüchtigt, wollten eine wahnwitzige Vision verwirklichen: Die uralte Kulturnation sollte gewaltsam auf die "Stunde Null" zurückgedreht werden, um dort anschließend ein agrarisches Utopia zu schaffen - eine Gesellschaft ohne Intellektuelle, Bürgertum oder Technik, ausgerichtet nur an den Grundbedürfnissen.

Der unscheinbare Duch, den Pellizzari als "das genaue Abbild der Banalität und Unschuld des Bösen" beschreibt, war der Chef der Geheimpolizei der Roten Khmer. Er befehligte das berüchtigte Folterzentrum Tuol Sleng mitten in Phnom Penh, das den Codenamen S-21 trug. 17.000 Menschen landeten während der 40-monatigen Schreckensherrschaft der Pol-Pot-Truppe in den Klassenräumen dieser ehemaligen Schule, wurden bestialisch gefoltert und anschließend nachts in den Reisfeldern der Umgebung ermordet. Ganze sechs Opfer überlebten S-21.

Haarsträubendes Zeitdokument

Die vietnamesischen Nachbarn machten dem Irrsinn 1979 ein militärisches Ende. Überall im Land mahnen heute Beinhäuser mit den übereinander geschichteten Totenschädeln der Opfer, doch die Schuldigen blieben noch Jahrzehnte nach dem Genozid unbehelligt. Pol Pot selbst starb 1998 im Hausarrest, ohne jemals vor Gericht gestellt worden zu sein, Ta Mok Anfang 2006.

Der untergetauchte und zum Christentum übergetretene Duch wurde 1998 verhaftet, demnächst soll der Prozess gegen ihn und vier andere Ex-Spitzenkader der Roten Khmer beginnen. Das Interview, das Pellizzari jetzt gelang, fand unter restriktiven Bedingungen statt: kein Tonmitschnitt, keine Fotos, keine direkten Fragen in Englisch oder Französisch, sondern nur über den Dolmetscher. Der kambodschanische Staatssekretär und mehere hohe Offiziere saßen mit im Raum.

Kambodschas Killing Fields (1)

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Kaing Guek Eav: Chefhenker bei den Roten Khmer

Foto: Doug_Niven/ dpa

Dennoch ist das Protokoll, das Pellizzari jetzt in der italienischen Tageszeitung "La Stampa" und im britischen "Independent" veröffentlichte, ein haarsträubendes Zeitdokument geworden, dessen Lektüre gerade deutsche Leser unwillkürlich frösteln lässt: Es gab Zweifel, aber man hatte keine Wahl; ich habe nur Befehle ausgeführt; nur die oben wussten Bescheid, ich hatte keinen Überblick - Rechtfertigungen und Entschuldigungen, die nach 1945 auch hierzulande eine lange Konjunktur hatten.

"Wir sahen überall Feinde, Feinde, Feinde"

Im August 1975 erhielt Duch den Befehl, das Lager S-21 einzurichten. "Mir wurde der Auftrag gegeben, es zu gründen und in Betrieb zu nehmen", sagt er im Interview, "aber warum sie mich auswählten, weiß ich nicht." Vielleicht, weil er zuvor als Polizeichef der "Sonderzone" bei Phnom Penh schon im Sicherheitsapparat der Roten Khmer tätig gewesen war? Worum es in S-21 ging, war Duch allerdings schon klar: "Ich und alle anderen, die an diesem Ort arbeiteten, wussten, dass jeder, der dort hin kam, psychologisch zerstört und durch ständige Arbeit eliminiert werden musste und keinen Ausweg bekommen durfte. Keine Antwort konnte den Tod verhindern. Niemand, der zu uns kam, hatte eine Chance, sich zu retten."

Den Job selbst schildert Duch als recht monoton und überhaupt eher bürokratischer Art: "Jeden Tag musste ich die Geständnisse lesen und überprüfen. Ich las von sieben Uhr morgens bis Mitternacht." Ein Bote habe die erfolterten Geständnisse direkt zu Verteidigungsminister Son Sen gebracht. Ob denn all diese Gewalt sein müsse, habe er einmal gefragt, so Duch. "Denk nicht über diese Dinge nach", sei die Antwort gewesen. Die Tötungsorder sei von ganz oben gekommen, so Duch: "Es war Ta Mok, der persönlich angeordnet hatte, alle Gefangenen zu eliminieren." Der ist seit zwei Jahren tot und nicht mehr zu Rechenschaft zu ziehen.

Persönliche Verantwortung, das wird aus seinen Einlassungen deutlich, mag Duch nicht ein Jota übernehmen. "Ich hatte keine Alternative", sagt er, oder "Ich habe gehorcht." Er sei "wie jeder andere in der Maschinerie" gewesen und habe sich "in die Ecke gedrängt" gesehen, verteidigt er seine Rolle. "Pol Pot, der Bruder Nummer eins, sagte, man solle immer misstrauisch sein, etwas fürchten. Und so kamen die üblichen Anordnungen: Vernehmt sie noch einmal und vernehmt sie besser." Die krankhafte Logik der Khmer-Rouge-Diktatur immerhin hat er begriffen: "Wir sahen überall Feinde, Feinde, Feinde".

"Ich musste ihn eliminieren"

Ob er sich nicht schuldig gemacht hat? "Wenn jemand nach Schuld fragt und den verschiedenen Graden von Schuld, dann sage ich, dass es keinen Ausweg gab aus dem Machtsystem Pol Pots." Jeder Versuch zu fliehen oder zu rebellieren, hätte sein eigenes Ende bedeutet oder das seiner Angehörigen: "Meine Familie hätte das gleiche Schicksal erlitten wie die anderen Gefangenen in Tuol Sleng. Wenn ich versucht hätte zu fliehen oder zu rebellieren, hätte das niemandem geholfen."

Doch der blutige Brutaldarwinismus machte im Kambodscha der Roten Khmer vor Familien nicht halt - auch diese letzten Loyalitäten endeten unter Umständen sehr schnell. Als ein Cousin von Duch eingeliefert wurde, habe er sich kurz in einem Zwiespalt gesehen, erklärt er seinem Interviewer Pellizzari. Der Versuch, die erfolterten Aussagen des Cousins herunterzuspielen, habe das Misstrauen seiner Vorgesetzten geweckt, und so musste der Cousin sterben: "Ich kannte ihn gut, wir hatten ehrliche Familienbande geknüpft, aber ich musste ihn trotzdem eliminieren. Ich wusste, dass er ein guter Mensch war, aber ich musste so tun, als ob ich sein mit Gewalt aus ihm gepresstes Geständnis glaubte."

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Bis zum letzten Tag machte Kaing Guek Eav alias Duch mit beim größten Völkermord nach 1945. Als Phnom Penh am 7. Januar 1979 fiel, tauchte der Lagerkommandant unter und nahm eine neue Identität an. Als man ihn 1998 aufspürte, war er zum Christentum übergetreten - weil er darin eine Macht sah, "die den Kommunismus besiegen" könne. Das Scheitern der mörderischen Ideologie, der er diente, akzeptiert Duch inzwischen. Er selbst sei allerdings nur ein Verführter gewesen: "Ich war 25 Jahre alt, Kambodscha war korrupt. Der Kommunismus war voller Versprechen und ich glaubte an ihn."

Und er tötete für ihn. Als Duch im November zur ersten Anhörung dem Richter vorgeführt wurde, forderte sein Verteidiger, den prominenten Angeklagten gegen Kaution freizulassen: Seine Menschenrechte seien durch die Haft verletzt worden, "auch wenn er nicht geschlagen oder gefoltert wurde". Von den Zuschauerplätzen erklang kurz ein bitteres Lachen.

Anmerkung der Redaktion: Ta Mok starb im Juli 2006, nicht, wie in einer früheren Fassung dieses Textes zu lesen war, bereits 1996. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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